GoodNews KW22/2021

Schlimmes Früchtchen.

Selten liegen Erwartung, Vorfreude und Enttäuschung so nah beieinander. Selten sind wir mit der Materie so gut vertraut und lassen uns doch immer wieder etwas vormachen. Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer oder die Frucht im Körbchen: Wenn wir uns nämlich wieder einmal vom ersten Eindruck täuschen lassen, voller Erwartung in die herrlich rote Beere beissen und die Geschmacksexplosion ausbleibt – dann war entweder das Wetter in den letzten Wochen schlecht oder wir haben die Erdbeeren nicht vom Produzenten aus unserer Region gekauft. Die Enttäuschung dürften alle kennen. Erdbeeren frohlocken in den Supermärkten schon seit Wochen. Liegen hübsch drapiert in den Regalen und testen unsere Widerstandsfähigkeit. Das ist die perfide Seite der beliebten Frucht: Ihr Äusseres sagt nichts über ihre inneren Werte aus. Entweder die Erdbeere ist herrlich aromatisch und erfüllt auf den ersten Bissen alle Erwartungen. Oder sie ist unreif und schmeckt ganz einfach nach: nichts. Dazwischen gibt es nicht viel.
Sollten wir es nicht längst wissen? Hat es Grossmutter nicht immer gesagt: Nicht die äusseren, sondern die inneren Werte zählen? Und nun ertappen wir uns in flagranti und realisieren, dass wir oberflächlich sind. Ein Thema, das vielen unangenehm ist. Weil Oberflächlichkeit zu unseren gesellschaftlichen Tabus gehört. Sie passt nicht mehr zu unserem Zeitgeist. Erst recht nicht zur Pandemie, während der wir uns wieder aufs Wesentliche konzentrierten. Und definierten, was zählt und was Schall und Rauch ist. Nach über einem Jahr Coronakrise schauen wir der ungeschminkten Wahrheit direkt ins Gesicht. Und ausgerechnet bei der Erdbeere tappen wir in die Schönheitsfalle. Bis jetzt. Denn die gute Nachricht ist gereift, das Blatt hat sich gewendet: Seit dieser Woche sehen die Erdbeeren nicht nur blendend aus, sondern schmecken auch hervorragend. Also doch, ein strahlendes Aussehen kann durchaus auch einen vielversprechenden Inhalt offenbaren. Vielleicht ist es oft nur eine Frage des richtigen Timings.

Simone Leitner Fischer